150 Jahre Theodor Lessing

Festakt

Aus Anlass seines 150. Geburtstags erinnerten wir am Donnerstag (8. September) im Rahmen eines Festaktes an den Philosophen und Schriftsteller Theodor Lessing (1872-1933), einen der beiden Namensgeber unserer Ada-und-Theodor-Lessing-Volkshochschule. Ada und Theodor Lessing waren ein Intellektuellenpaar mit unkonventioneller Denk- und Lebensweise. Sie gehörten zu den zentralen Persönlichkeiten bei der Gründung der Volkshochschule, in Hannover, im Jahre 1919.

Begrüßung

  • Jacqueline Knaubert-Lang, Leiterin der Volkshochschule Hannover

Grußworte

  • Stadträtin Rita Maria Rzyski, Dezernentin für Bildung, Jugend und Familie
  • Dr. Franz-Rainer Enste, Antisemitismusbeauftragter der Niedersächsischen Staatskanzlei

Vortrag von Dr. Rainer Marwedel

  • Das zarteste Gehirn. Theodor Lessings Krankheitsbilder der Kultur

Theodor Lessing (1872–1933) war Privatdozent für Philosophie an der Technischen Hochschule Hannover, doch leben konnte er davon nicht. Er schrieb für Zeitungen und machte die Philosophie zu einer öffentlichen Angelegenheit.

Seine psychologische Studie über den Serienmörder Haarmann (1925) trug ihm in Hannover wenig Sympathie ein, sein Artikel über Hindenburg (1925) führte zu einer antisemitischen Hetzkampagne in Hannover, die der Rektor der Technischen Hochschule mitdirigierte.

Am 30. August 1933 wurde Theodor Lessing von gedungenen Mördern in seinem Exil in Marienbad erschossen.

Als angehender Mediziner hatte Theodor Lessing in der Anatomie auch Gehirnschnitte auszuführen; es gibt keinen Philosophen des 20. Jahrhunderts, der auf solche Erfahrungen verweisen kann. Dies kam ihm bei seinem philosophischem Studium des Menschen und seines Gehirns zugute.

Der Neocortex ist eine recht junge Entwicklung in der Menschheitsgeschichte, instabil, anfällig für die Bedürfnisse der älteren Hirnschichten. Im Neocortex findet die Feinabstimmung der lebenselementaren Funktionen statt, hier ist der Ort des abstrakten Denkens, der rationalen Planung. Der Neocortex hat sich im Lauf der Evolution daran angepaßt, zusammenhängende lückenlose Geschichten zu konstruieren. Wenn das Gehirn mit einem Problem konfrontiert wird, das es nicht lösen kann, spinnt es eine Geschichte aus Erfahrungsbruchstücken, es versucht, Kohärenz herzustellen. Es tut das, was Lessing logificatio post festum genannt hat, es sucht eine Einheit, die es in der wirklichen Welt oft so nicht gibt, gleichwohl aber für den Seelenfrieden des Cortex-Besitzers völlig ausreichend ist.

»Das höchste Interesse aller Lebewesen fordert, daß die zum Leben notwendigen Funktionen mit einem Minimum an Bewußtheit vor sich gehn. Die unbewußtesten, am meisten mechanisierten Funktionen, sind daher immer die lustvollsten; die ungewohntesten dagegen, die den meisten Aufwand an Bewußtseinsenergie beanspruchenden aber sind die unlustreichsten. Daher sind alle Funktionen der Gattung, wie Ernährung und Fortpflanzung, als die eingeschliffensten und ältesten, mit der höchsten Lust für jedes Individuum verknüpft, während jede neue Erwerbung nur durch eine schmerzliche, fast einer Erkrankung zu vergleichenden Störung erworben wird, die sich erst ›entwirkt‹ im selben Maße als die neue Funktion zur Gewohnheit ward.« (Theodor Lessing)

 

 

Der Vortrag in Textform mit freundlicher Genehmigung des Autors:

Dr. Rainer Marwedel

Seit 1978 forscht Dr. Rainer Marwedel, geb. 1954 in Celle, über das Leben und Werk Theodor Lessings. Zuletzt erschienen im Wallstein Verlag die beiden Bände ›Kultur und Nerven‹. Kleine Schriften 1908–1909.  www.theodorlessingedition.de