Festakt: 150 Jahre Theodor Lessing | Vortrag von Dr. Rainer Marwedel "Das zarteste Gehirn. Theodor Lessings Krankheitsbilder der Kultur"

Theodor Lessing zum 150. Geburtstag

Unbequemer Zeitgenosse und innovativer Förderer der Erwachsenenbildung

Aus Anlass seines 150. Geburtstags erinnern wir heute an den Philosophen und Schriftsteller Theodor Lessing (1872-1933), einen der beiden Namensgeber unserer Ada-und-Theodor-Lessing-Volkshochschule.

Ada und Theodor Lessing waren ein Intellektuellenpaar mit für ihre Zeit unkonventioneller Denk- und Lebensweise. Sie gehörten zu den zentralen Persönlichkeiten bei der Gründung der Hannoveraner Volkshochschule im Jahre 1919.

Adele (oder kurz: Ada, *16. Februar 1883) wuchs in einem von ihrem Vater geführten Gasthof auf, einem beliebten Ausflugsziel in der Eilenriede. Theodor (*8. Februar 1872) war der Sohn einer gut situierten jüdischen Familie in Hannover, der Vater Arzt, die Mutter Tochter eines Düsseldorfer Bankiers. Theodor litt unter dem Drill im Schulsystem, studierte in Süddeutschland Medizin, wandte sich dann der Literatur, Philosophie und Psychologie zu und wurde schließlich Schriftsteller und Journalist. Berühmt wurde er bald nach der Jahrhundertwende durch seine oft scharfe Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft. Vor allem konservativere Kreise hatten Probleme damit, und noch mehr jene, die sich später zur extremen nationalen Rechten entwickelten. Theodor wurde Dozent der Philosophie an der Technischen Hochschule Hannover (heute Universität), erhielt aber aufgrund seiner Umstrittenheit keinen dauerhaften Posten, und so lebte er viele Jahre von Privatstunden und von den Honoraren für seine zahlreichen, oft feuilletonistischen Beiträge in liberalen und demokratischen Zeitungen wie dem Prager Tagblatt.

Ada und Theodor lernten sich vermutlich 1907/1908 kennen, einige Jahre nachdem Ada ihrerseits ihren ersten Mann verlassen hatte, einen Gutsbesitzer, mit dem sie im Alter von 19 Jahren vermählt worden war. Zu den vielen unkonventionellen Verhaltensweisen von Theodor und Ada gehörte, dass sie, obwohl noch nicht verheiratet, bereits zusammen wohnten (Haus im bürgerlichen Gartenvorort Anderten). Skandalös – aber nicht untypisch: Ada begann 1914 in der Frauenrechtsbewegung zu kämpfen, und sie wurde Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, der sich auch Theodor anschloss.

In den Jahren 1918-1919, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, als die Gesellschaft in Scherben lag und die Hannover ein Knotenpunkt für Schwarzmarkthändler und heimkehrende, vom Krieg traumatisierte Soldaten war, engagierte sich das Ehepaar Lessing in der Initiative zur Gründung einer Bildungseinrichtung für Erwachsene in Linden, damals Vorort von Hannover. Sie wollten einen Beitrag zur Gestaltung einer neuen, besseren Gesellschaft leisten. Unterstützt durch entsprechende landesweite Gesetzgebung (die Weimarer Verfassung) und kommunale Förderung war die Idee, den einfachen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich parallel zur täglichen Arbeit weiterzubilden: eine Arbeiteruniversität – eine Volkshochschule. Ursprünglich eher an akademischen Fächern ausgerichtet, wandte sich das Volkshochschulwesen mit der Zeit anderen lebenspraktischen Fähigkeiten und der Entwicklung der Persönlichkeit zu. Ada Lessing war die erste Direktorin dieser als Verein etablierten Einrichtung in Hannover-Linden. Sie behielt diese Verantwortung während der gesamten stürmischen 1920er Jahre bis in die frühen 1930er, koordinierte die Arbeit der freiberuflichen Lehrerinnen und Lehrer, kümmerte sich um die rund 7000 Anmeldungen pro Jahr, war ständig auf der Suche nach Fördermitteln und gab Unterricht in Themen wie den Frauenrechten.

Theodor war unterdessen zu einem der bekanntesten aber auch am meisten angefeindeten politischen Schriftsteller der Weimarer Republik geworden. Vieles, wofür er sich einsetzte, erscheint auch im Jahre 2022, 150 Jahre nach seiner Geburt, höchst aktuell: Er kämpfte gegen umweltverschmutzenden Lärm (nicht zuletzt in seiner Zeitschrift Der Antirüpel, 1909-1911). Er setzte sich ein für die Gleichberechtigung der Frau. Er forderte als Sozialdemokrat menschenwürdige Arbeitsbedingungen und als Philosoph die gesellschaftliche Relevanz philosophischen Handelns. Und nicht zuletzt war er ein Pionier ungewöhnlicher, zum Alltagsleben gehörender Lernorte, indem er schon Anfang des Jahrhunderts Unterricht in der Wartehalle des Dresdner Hauptbahnhofs anbot. In Büchern wie seiner „Geschichte als Sinngebung des  Sinnlosen“ findet man Gedanken zur Konstruktion von Wirklichkeit, Geißelung des kulturellen Eurozentrismus und eine heute hochaktuell erscheinende Kritik am der Zerstörung planetarer Lebensgrundlagen  in einem Buch, wohlgemerkt, das vor sage und schreibe hundert Jahren geschrieben wurde.

Einem breiten Publikum bekannt wurde Theodor Lessing allerdings in den 1920er Jahren, einerseits mit Gerichtsreportagen vom Prozess gegen den Hannoveraner Serienmörder Haarmann 1924-1925, bei dem Lessing die wenig rühmliche Rolle einer korrupten Polizei ankreidete; und mit einer Schrift gegen die in seinen Augen schwache Persönlichkeit des Reichspräsidenten Hindenburg (der in einer Villa im Hannoveraner Zooviertel wohnte). Dies führte bis hin zu öffentlichen Einschüchterungskampagnen durch rechtsgerichtete Studentengruppen, die seine Vorlesungen belagerten und auch steinewerfend sein Wohnhaus angriffen.

Erst Hitlers Machtübernahme in Berlin im Januar 1933 beendete die Rolle von Theodor und Ada in der Volkshochschule Hannover. Als Jude und als politischer Schriftsteller, der für die demokratische Ordnung kämpfte, war Theodor Lessing zu einem der exponiertesten Intellektuellen seiner Zeit in Deutschland geworden und stand im Fadenkreuz der Rechtsextremen. Im Februar/März 1933 floh Theodor über Berlin in die Tschechoslowakei, gefolgt im Juli von Ada. Dort wurde er im August 1933 von einer Gruppe nationalsozialistischer Kopfgeldjäger ermordet.

Die Volkshochschule in Hannover wurde nach dem Kriege wieder eingerichtet, aber ohne dass Ada Lessing, die eigentlich bereit stand, in die Leitung zurückberufen worden wäre. Im Jahr 1966 ging die Volkshochschule, bis dahin ein Verein, in kommunale Trägerschaft über. Der Vorschlag, sie nach dem Gründerpaar Ada und Theodor Lessing zu benennen, brauchte weitere 40 Jahre, bis er 2006 realisiert wurde. Im Foyer der Volkshochschule erinnert seither ein großes gemaltes Portrait an Theodor Lessing, das ihn zusammen mit anderen Personen der Geschichte zeigt. Ein photographisches Portrait der ersten VHS-Leiterin Ada Lessing folgte im Jubiläumsjahr 2009.

Christian Geiselmann

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