§ 175 – Die Geschichte von Friedel Schwarz

Friedel Schwarz wurde am 27. Juli 1886 in der Nordstadt geboren. Er war der jüngste von vier Brüdern. Sein Vater Louis war Arbeiter, er bezeichnete sich zeitweise als Musiker. Friedel hat wohl die Bürgerschule in der Schaufelder Straße besucht. Er verließ die Schule zu Ostern 1901 wenige Monate vor seinem fünfzehnten Geburtstag.

Nach der Schule verdiente Friedel seinen Lebensunterhalt als Laufbursche, später als Packer und Arbeiter. Mit dem verdienten Geld bezahlte er Gesangsstunden. Als Friedel achtzehn oder neunzehn war, begann er Sex mit anderen Männern zu haben. Auch in dieser Zeit fing Friedel in Frauenkleidern aufzutreten und als Stimmungssänger zu arbeiten. 1909 wurde er das erste Mal verhaftet, weil er „in Damenkleidern“ Männer einander zugeführt hatte. Seine Strafe: drei Tage Haft.

In der Bibliothek der Cornell University in New York befindet sich eine Sammlung mit Postkarten von deutschen „Damenimitatoren“ oder Travestiekünstlern. Die Fragezeichen vor und nach den Namen der dargestellten Personen sind ein bewusstes In-Frage-Stellen der Geschlechteridentität. Zwei Karten in der Sammlung zeigen Friedel Schwarz. Eine der Karten wurde 1913 von Friedel selbst an einen befreundeten Travestiekünstler, Asta Hombs, geschickt, die andere Karte stammt wahrscheinlich auch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.

In den 1920er Jahren trat Friedel in verschiedenen Kneipen der homosexuellen Szene. Heute könnte man von ihm als Travestiekünstler sprechen. „Travestie“ bedeutet „verkleidet“ und ist eine Kunstform, in der Männer als Frauen oder Frauen als Männer auftreten. Anders als die Kunstform der Travestie ist aber Transvestismus – das bewusste Tragen von Kleidung, die als typisch für das jeweils „andere“ Geschlecht gilt – auch eine Lebensform.

Über Friedels persönliche Motivation oder seine Einstellung zu seiner eigenen Genderidentität ist nichts überliefert – ob er sich zum Beispiel als Travestiekünstler oder eher als Transvestit verstanden hat. Bekannt ist aber, dass er sich
ausschließlich zu Männern als Liebespartnern hingezogen fühlte.

Friedels letzter Arbeitsplatz war das Automaten-Restaurant in der Georgspassage. Bis 1931 trat er dort als Künstler auf, danach kellnerte er in dem Lokal. Das erste Automaten-Restaurant wurde 1896 von der Firma Stollwerck in Berlin eröffnet. Die Gäste bezogen alle Gerichte aus Automaten, indem sie Münzen oder Marken eingaben. Das Automaten-Restaurant in Hannover war in den 1920er und 1930er Jahren ein heimlicher Treffpunkt für Homosexuelle.

Der 1871 eingeführte § 175 vom Strafgesetzbuch stellte Homosexualität im Deutschen Reichen unter Strafe. Der Paragraph wurde 1935 von den Nationalsozialisten noch verschärft. Auch Handlungen wie Küsse und Berührungen zwischen Männern waren jetzt strafbar. Homosexualität an sich wurde von den Nationalsozialisten als Bedrohung für den „neuen Staat, der ein an Zahl und Kraft starkes, sittlich gesundes Volk erstrebt.“

Friedel wurde im Juni 1939 wegen Vergehen gegen § 175 verhaftet. Vorgeworfen wurden ihm homosexuelle Handlungen, die teilweise lange zurückliegen und zur Tatzeit nicht strafbar waren. Nachdem Friedel Schwarz fast anderthalb Jahre in Untersuchungshaft verbracht hatte, schrieb seine Mutter Elise im November 1940 an das Gerichtsgefängnis in Hannover mit der Bitte um seine Freilassung: „[Ich] bin 83 Jahre alt, seit langen Jahren Witwe. Mein Sohn Friedrich hat stets gut für mich gesorgt. Ich möchte doch gerne noch ein paar Jahre mit meinem Sohn zusammen leben. Dies ist mein größter Herzenswunsch.“ Elise Schwarz bekam ihren Herzenswunsch nicht.

1941 wurde Friedel als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ zu vier Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Im Urteil hieß es: „[Der Angeklagte hat] fortlaufend ... im Mittelpunkt homosexueller Kreise gestanden. … Bei dieser Sachlage ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass auch durch die Verbüßung der … Zuchthausstrafe sein verbrecherischer Hang nicht abgetötet werden kann.“ Nach seiner Verurteilung wurde Friedel Schwarz ins Zuchthaus Hameln gebracht. Ende 1941 wurde er ins Zuchthaus Celle verlegt. Der Besuch seines Bruders Ludwig dort im Februar 1943 war sein letzter nachweislicher Kontakt mit Familie oder Freunden.

Friedel Schwarz wurde im März 1943 – vor Ablauf seiner Haftzeit – vom Zuchthaus Celle in das Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg zur „Sicherungsverwahrung“ überstellt. Er war nach der Gefängnishaft stark abgemagert. Friedel Schwarz starb in Neuengamme am 3. April 1943.

Homosexuelle Männer wurden auch nach dem Krieg in Deutschland nach der NS-Fassung des § 175 verfolgt. Erst Ende der 1960er Jahre begann die Zahl der Verurteilungen zu sinken. 1969 wurde das Totalverbot aller homosexuellen Handlungen aufgehoben.

Der Bundestag hob erst 1994 den § 175 des Strafgesetzbuchs ersatzlos auf. 2002 beschloss der Bundestag ein Gesetz zur Aufhebung aller Unrechtsurteile, die in der Zeit des Nationalsozialismus gefällt wurden. Dies betraf auch Urteile gegen Homosexuelle – nicht aber die, die nach 1945 gefällt wurden.

Erst 2017 beschloss der Bundestag die Aufhebung aller Urteile nach § 175. Im selben Jahr wurde ein Gesetz beschlossen, das die Ehe für alle erlaubt. Seitdem dürfen in Deutschland gleichgeschlechtliche Paare heiraten. 2007 wurde am Standort des früheren Wohnhauses von Friedel Schwarz in der Berggartenstraße ein Stolperstein für ihn verlegt. Insgesamt zwölf der über 400 Stolpersteine in Hannover sind homosexuellen Opfern des NS-Regimes gewidmet.

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Eine Kooperation der Beauftragten für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt der Landeshauptstadt Hannover, sowie der Koordinationsstelle ALBuM, dem  ZeitZentrum Zivilcourage, dem Stadtarchiv und der Ada-und-Theodor-Lessing-Volkshochschule